Das Dorf Orgosolo – Wandgemälde, Banditen und stille Helden

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“, heißt es in Brechts „Leben des Galilei“. Orgosolo müsste demnach glücklich sein, denn Helden gibt es hier, bekannte wie unbekannte. Aber nur die unbekannten Helden haben dem Ort wirklich genutzt. Die namentlich bekannten sind für Orgosolos Ruf  als  schlimmstes Banditendorf der Insel verantwortlich. Natürlich ist der „banditismo“ Teil der Geschichte des Ortes. Aber man täte dem Dorf und seinen Bewohnern unrecht, wenn man Orgosolo auf diesen Aspekt reduzieren wollte.

Auf den ersten Blick ist Orgosolo eines dieser ziemlich unattraktiven Dörfer, wie sie für die wilde Bergregion Barbagia im Herzen Sardiniens typisch sind. Man sieht diese Dörfer schon von weitem, sie sind gleichsam wie Schwalbennester an die kahlen Gebirgshänge geklebt und bestehen aus einem Sammelsurium reizloser, oft unverputzter Betonziegelhäuser. Man sieht diesen Dörfern an, dass sie arm sind, dass ihre Bewohner nie eine Chance hatten, der Armut zu entfliehen.

Dennoch ist Orgosolo reich. Davon bekommen die Touristen, die im Sommer im Stundentakt in klimatisierten Bussen durch den Ort gekarrt werden, jedoch kaum etwas mit.  Sie bewundern die „Murales“, die Wandgemälde, für die Orgosolo berühmt ist, und werden von den Orgolesen kaum zur Kenntnis genommen. Wer jedoch auf eigene Faust nach Orgosolo kommt und  sich die Zeit nimmt, mehr zu erfahren, wird von ganz anderen Eindrücken gefangen genommen.

Die Gastfreundschaft der Orgolesen

So erging es mir, als ich nach einem Spaziergang durch den Ort eine kleine Bar betrat und mir einen Campari bestellte. Die Bar war voll mit Einheimischen. Ich versuchte von meinem Tisch aus, etwas von den Gesprächen ringsherum mitzubekommen. Hier wurde aber nicht italienisch, sondern sardisch gesprochen, und so verstand ich nichts von dem, was die Gäste beschäftigte. Als ich schließlich zahlen wollte, bekam ich vom Wirt die Auskunft „già pagato“, „schon bezahlt“. Ich fragte den Wirt, wer meine Rechnung übernommen hatte, und er wies auf den Herrn am Tisch neben mir. Was sollte ich tun? Ich lud den edlen Spender meinerseits zu einem Drink ein, was dieser jedoch lachend von sich wies. Weil ich aber darauf bestand, ließ er sich schließlich auf eine „mezza birra“ ein, und es entspann sich ein lebhaftes Gespräch, an dem sich bald die halbe Kneipe beteiligte.

Dabei schlug mir eine echte, warme Herzlichkeit entgegen, wie ich sie so noch nie bei Zufallsbekanntschaften erlebt hatte. Als ich mich verabschieden und bezahlen wollte, bekam ich wieder das mir schon bekannte „Già pagato“ zu hören.Man erklärte, ich sei nun einmal Gast in Orgosolo und da nehme man sich das Recht, mich als solchen zu behandeln. Im Übrigen sei Mittagszeit, und ich täte „Zicheddu“, wie mein neuer Freund auf Dialekt genannt wurde, einen großen Gefallen, wenn ich seine Essenseinladung annähme. Seine Familie würde sich über meinen Besuch freuen. Keine Ausrede, keine Entschuldigung verfing. Ich musste also mit.

Die Familie freute sich tatsächlich so, als hätten sie nicht irgendeinen Fremden, sondern genau mich und keinen anderen als Gast erwartet. Ich erlebte einen unvergesslichen Nachmittag und kehrte zutiefst gerührt nach Budoni zurück, nicht ohne zuvor das Versprechen abgegeben zu haben, am nächsten Wochenende mit Frau und Kind wiederzukommen. In dieser herzlichen Gastfreundschaft, wie sie in der Barbagia seit Jahrtausenden praktiziert wird, liegt der wahre Reichtum dieser ansonsten bitter armen Region.

Orgosolo — ein “Banditennest”?

Aber was hat es nun mit Orgosolos Reputation als Banditennest auf sich? Von der Römerzeit bis ins 19. Jahrhundert kam es immer wieder zu bewaffneten Raubzügen sardischer Bergbewohner ins Umland, bedingt durch die extreme Armut, in der die Hirten in dieser kargen Bergregion lebten. Eine blutige Familienfehde in Orgosolo, die von 1903 bis 1917 zahlreiche Menschenleben forderte und die 30 Jahre später erneut aufflammte, trug ebenfalls zum schlechten Ruf des Dorfes bei. Tatsache ist aber auch, dass die Carabinieri in jener Zeit eine Art Willkürherrschaft in Orgosolo etablierten, was das Misstrauen und die Abneigung der Einwohner gegen staatliche Institutionen weiter zementierte. (Eine sehr differenzierte Darstellung dieser Verhältnisse findet sich in dem Film “Banditi  a Orgosolo” des italienischen Regisseurs Vittorio de Seta von 1961.) Dass diese komplexe Geschichte von der Tourismusindustrie ausgeschlachtet wird, indem man Orgosolo kurzerhand als “Banditennest” etikettiert, um den zahlenden Gästen ein wenig angenehmen Grusel zu bieten, tut dem Ort und seinen Bewohnern unrecht.

Gewaltloser Widerstand: Der “Kampf um Pratobello”

Dass die Orgolesen in der Lage sind, sich auf kreative und gewaltfreie Art erfolgreich gegen die verhasste Obrigkeit zur Wehr zu setzen, bewiesen sie beim sogenannten “Kampf um den Pratobello”. Als die italienische Regierung im Jahr 1969 kommunales Weideland auf der Hochebene Pratobello zu einem NATO-Truppenübungsplatz umwandeln wollte, hatte sie die Rechnung ohne die Dorfbewohner gemacht. Als die Truppen anrückten, waren sämtliche Wegweiser umgedreht worden, so dass einige Kompanien ihr Ziel nicht erreichten. Zudem brachten Hirten die anrückenden Soldaten aus dem Tritt, indem sie ihre Herden mitten in die Marschkolonnen trieben. Begleitet wurde das Militär auf seinem Marsch derweil von Orgosolos Frauen und Kindern. Diese verwickelten die Truppen in Gespräche, machten den Soldaten klar, dass sie hier unerwünscht seien und dass es ein Unrecht sei, dieses Land zu enteignen. Am Ende wurde die Besetzung nach absolut gewaltlosem Widerstand als undurchführbar abgeblasen. Diese Menschen sind Orgosolos wahre Helden, auch wenn man ihre Namen nicht mehr kennt.

Die Wandgemälde von Orgosolo — Farbenfroher Ausdruck des Widerstandes

In die gleiche Zeit fällt die Geburtsstunde der berühmten Murales von Orgosolo.  Diese Wandgemälde sind Ausdruck des Protestes gegen die vielfältigen Machtstrukturen des Staates, dem man in der Barbagia, wie wir gesehen haben aus gutem Grund, mit Misstrauen begegnet. Die ersten Wandgemälde verewigten den erfolgreichen Kampf um den Pratobello, doch dabei blieb es nicht. Nach und nach füllten sich die kahlen Häuserwände mit bebilderten Parolen gegen den Vietnamkrieg, für den Partisanenkampf, gegen den Faschismus, gegen die Habsucht des Staates und vieles mehr. Ein für uns Deutsche interessantes Beispiel  ziert die Fassade der Bar „Ziu Mesina“. Die Büste des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt steht auf dem Grab von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. (Beide, Mitglieder der Terrororganisation RAF, hatten im Gefängnis Stammheim Selbstmord begangen. Hier wird daraus ein von Helmut Schmidt inszenierter Mord aus Staatsraison.) Machtmissbrauch, das ist die Botschaft, ist  ein Problem aller Staatsformen, nicht nur der Diktaturen.

Der Murales-Boom dauerte bis in die Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts.. Nach einer Flaute in den Neunziger Jahren entstanden ab Beginn des neuen Jahrtausends  neue Murales, teilweise mit weltpolitischen Themen wie zum Beispiel dem Anschlag auf das World Trade Center und dem darauf folgenden  Krieg im Irak. Die alten Murales wurden – auch der Touristen wegen – restauriert.

Eines davon zitiert Brecht, und zwar seine Korrektur der Aussage zu Beginn dieses Artikels: Statt “Unglücklich das Land, das keine Helden hat”, heißt es nun, „Felice il popolo che non ha bisogno di eroi!“ (“Glücklich das Volk, das keine Helden nötig hat!”)


Mit einem sardischen “Adiosu” verabschiedet sich für heute

Ihr Joachim Waßmann