Korallen, Piraten und die Madonna der Sklaven: die unglaubliche Geschichte von Carloforte

Treue Leser dieses Blogs werden sich erinnern, dass es auf sardischem Boden ein Klein-Barcelona gibt, in dem noch heute eine Variante des Katalanischen gesprochen wird: Alghero. Dies ist jedoch nicht der einzige Ort Sardiniens, an dem man das Gefühl haben könnte, ganz woanders zu sein. Das Städtchen Carloforte in der Provinz Sud Sardegna liegt auf der Insel San Pietro, etwa 10 km vor der Südwestküste der Hauptinsel. Ein relativer Katzensprung, denn normalerweise müsste man ca. 600 km nach Norden reisen, um einen architektonisch und kulturell vergleichbaren Ort zu finden. Gemeint ist die ligurische Hauptstadt Genua, die Carloforte seit 2004 als Honorargemeinde anerkennt.

Wie ein ligurisches Städtchen nach Sardinien versetzt wurde, ist eine Geschichte, so spannend wie ein Abenteuerroman und so dramatisch wie ein italienisches Opernlibretto. Im Jahre 1542 beschlossen Angehörige des ligurischen Kaufmannsgeschlechts der Lomellini, ihr Glück in der Fremde zu suchen. Sie konnten Bewohner des genuesischen Stadtteils Pegli und benachbarter Gemeinden überzeugen, sich ihnen anzuschließen, und so segelten die hoffnungsvollen Auswanderer zur Insel Tabarca vor der Küste Tunesiens, wo sie fortan im Auftrag der Lomellini nach Korallen fischten. Dies taten sie so gründlich, dass die Korallenvorkommen zweihundert Jahre später nahezu erschöpft waren, wodurch Abbau und Handel sich nicht mehr rentierten. Außerdem hatten die Tabarchini, wie sie sich jetzt nannten, zunehmend Ärger mit den muslimischen Nachbarn.

Sardafit-Fotos von Ferienhäusern und Ferienwohnungen auf Sardinien.
Denkmal für König Carlo Emanuele III, den Namenspatron von Carloforte. (Bild: trolvag / Creative Commons)

In dieser Situation machte König Carlo Emanuele III von Savoyen den Tabarchini im Jahr 1738 das Angebot, von Tabarca auf die unbewohnte Insel San Pietro umzusiedeln. Einige von ihnen ergriffen diese Chance und nannten ihren neu gegründeten Wohnort auf der Insel aus Dankbarkeit Carloforte. Die aufstrebende Gemeinde zog weitere Auswanderer aus Ligurien an. Alles schien sich zum Guten zu wenden. Im Jahr 1798 jedoch wurde Carloforte von Piraten überfallen und 900 seiner Einwohner nach Tunesien verschleppt, wo sie als Sklaven gehalten wurden. Sagte ich nicht, es wird opernhaft? Ich zumindest habe bei dieser Vorstellung Verdis „Gefangenenchor“ im Ohr. Und noch eine Wendung gibt Stoff für mindestens eine italienische Oper her: Eine der Gefangenen wurde die Mutter des Beys Ahmad I Al-Husain, der sein Land modernisierte und 1846 die Sklaverei abschaffte. Ihre verschleppten Landsleute aber wurden nach fünf Jahren freigekauft und kehrten in ihren Heimatort zurück.

Wer heute durch die schmucken Gässchen von Carloforte flaniert, das zum illustren Kreis der schönsten Orte Italiens zählt, hat Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass sie einst von finsteren Piraten auf der Suche nach menschlicher Beute unsicher gemacht wurden. Nur ein paar erhalten gebliebene Teile der Stadtmauer und die Festung zeugen von dieser unruhigen Zeit. Wer aber die Kirche der Madonna del Naufrago betritt, sieht sich noch einer anderen Zeitzeugin gegenüber: Der sogenannten Madonna der Sklaven. Diese ehemalige Galionsfigur eines Schiffes wurde am 15. November 1800 von Nicola Moretto aus Carloforte am Strand von Tunis gefunden. Die versklavten Carlofortiner werteten den Madonnenfund als göttlichen Fingerzeig und nahmen ihre neue Schutzpatronin nach ihrer Befreiung mit zurück nach Carloforte, wo sie noch heute am letzten Sonntag im November mit einem Fest geehrt wird.

Sardafit-Fotos von Ferienhäusern und Ferienwohnungen auf Sardinien.
Die Madonna der Sklaven. (Bild: Creative Commons)

Für ein weiteres Anzeichen von Carlofortes bewegter Vergangenheit muss man die Ohren spitzen, denn so, wie die Bewohner von Alghero bis heute eine Variante des Katalanischen sprechen, haben die Nachfahren der „Ureinwohner“ von Carloforte deren Sprache bewahrt, eine Variante des Ligurischen, die so nur hier gesprochen wird. Und sicher würden sie sich diesem Motto anschließen: ,, Tanti sun li Zenoeixi, e per lo mondo si desteixi, che und’eli van o stan un’aotra Zenoa ge fan.“ (,,Überall auf der Welt gibt es Genueser, und wo sie gehen und stehen, erschaffen sie ein neues Genua.“)

Mit einem sardischen ,,Adiosu“ verabschiedet sich für heute

Ihr Joachim Waßmann

(Beitragsbild: Die schmucke Hafenpromenade von Carloforte, im Hintergrund Sardinien. (Bild: trolvag , Creative Commons)

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