Uralt, aber keine olle Kamelle: Der sardische Karneval
Karneval in Italien – bei diesem Stichwort sehen viele wahrscheinlich vor ihrem geistigen Auge die sattsam bekannten Bilder von venezianischen Maskenträgern, umgeben von einer Kulisse aus Kanälen, Brücken, Gondeln und Palazzi. Aber wussten Sie, dass Sardinien mit einer nicht minder faszinierenden Karnevalstradition aufwarten kann? Oder, um es genauer zu sagen: mit dutzenden von Traditionen (denn Masken und Brauchtum unterscheiden sich von Ort zu Ort)?
Wer sich auf das Abenteuer “Karneval auf Sardinien” einlässt, wird massenproduzierte Souvenir-Masken “Made in China” vergeblich suchen. Stattdessen kann der aufgeschlossene Reisende einen tiefen Einblick in die sardische Seele gewinnen und Bräuche beobachten, die ihren Ursprung unter anderem in archaischen Ritualen der Winteraustreibung haben, tief in vorchristlicher Zeit.
In besonders reiner Form haben sich diese Traditionen im Herzen Sardiniens erhalten, in den Bergdörfern der Barbagia. Dort beginnt der Karneval (sardisch: Karrasecare) bereits am 16./17. Januar. Dann werden in vielen Gemeinden große Feuer zum Fest des Sant’Antonio entzündet, und es erscheinen erstmals in der Karnevalssaison Träger der jeweils ortstypischen Masken. Daher bezeichnen die Sarden diesen Auftakt ihres Karnevals als Prima Essia – das erste Erscheinen. Aus dem Zusammenspiel des flackernden Feuerscheins mit den oft unheimlichen und rätselhaften Masken ergibt sich eine Stimmung, der man sich nur schwer entziehen kann und bei der man sich in ein längst vergangenes, mythisches Zeitalter zurückversetzt glaubt. Seinen Höhepunkt erreicht der sardische Karneval in der Karnevalswoche vor dem Aschermittwoch (martedi grasso). Weil die große Anzahl von ortsspezifischen Karnevalsbräuchen den Rahmen dieses Artikels bei Weitem, sprengen würde, seien im Folgenden stellvertretend zwei besonders eindrucksvolle Beispiele vorgestellt:
Mamoiada: Mamuthones und Issohadores
In dem idyllisch gelegenen Dorf Mamoiada treiben diese seltsamen Gestalten ihr Unwesen. Die Mamuthones tragen schwarze, holzgeschnitzte Masken, die nur entfernt menschlich wirken. Sie hüllen sich in schwarze, zottelige Felle und tragen an gekreuzten Lederriemen Glocken in verschiedenen Größen auf dem Rücken, die zwischen 20 und 30 kg wiegen können. Diesen visuell und akustisch eindrucksvollen Unholden an die Seite gestellt sind die Issohadores mit weißen Masken und in farbenfroher traditioneller Kleidung. Mit ihren Seilen fangen sie die Mamuthones ein, aber auch Zuschauer, vor allem weibliche, sollten sich vor ihnen in Acht nehmen!
In diesem Video des sardischen Tourismusverbandes kann man Mamuthones und Issohadores in Aktion bewundern:
In Ottana mit seiner uralten Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert tummeln sich in der Karnevalszeit die Boes (Ochsen) mit ihren fast afrikanisch anmutenden Masken und ihre Hirten, die Merdules, die versuchen, die Boes zu bändigen und zu zähmen. Das harte bäuerliche Leben und der Kampf zwischen Mensch und Natur werden hier versinnbildlicht. In Ottana findet sich außerdem die einzige weibliche Gestalt des sardischen Karnevals, die unheimliche, hexenhafte Filonzana. Sie spinnt einen Wollfaden, der den Lebensfaden repräsentiert. Wem sie sich in den Weg stellt, der muss ihr etwas zu trinken anbieten, andernfalls schneidet sie den Faden durch. Die Verbindung zu den Parzen der römischen bzw. den Moiren der griechischen Mythologie ist offensichtlich. Die Filonzana kann auch die Boes auf diese Weise “töten”, die sich jedoch nach einer Weile wieder erheben. Dies symbolisiert den Kreislauf von Werden und Vergehen.
Die Associazione Culturale Boes e Merdules hat dieses eindrucksvolle Video veröffentlicht:
Sie sehen also: Auch zur Karnevalszeit lohnt ein Besuch auf Sardinien!
Mit einem sardischen „Adiosu“ verabschiedet sich für heute
Ihr Joachim Waßmann